"Magdeburg hat keine Zeit zu verlieren"

Bericht zur Diskussion vom 8. November 2022

Wie steht es um die Energie- und CO2-Bilanz von Magdeburg und wie lässt sich das Ziel der CO2-Neutralität mit Blick auf die Bereiche Verkehr und Wohnen erreichen? Diese Fragen standen im Mittelpunkt der Diskussionsveranstaltung „Magdeburg klimaneutral bis 2035 – aber wie?“ von Netzwerk Zukunft Sachsen-Anhalt e.V. und dem Klimabündnis Magdeburg am 8.11.22 im Roncalli-Haus.

Um die Dramatik der Situation in Deutschland ganz allgemein verständlich zu machen, nutzte Anne Scheuermann vom Leipziger Institut für Energie (LIE) in ihrem Input eingangs das Bild des Country Overshoot Day (Erdüberlastungstag), der 2022 bereits im Mai erreicht wurde. Ermittelt wird dabei der Tag des laufenden Jahres, an dem die menschliche Nachfrage nach nachwachsenden Rohstoffen das Angebot und die Kapazität der Erde zur Reproduktion dieser Ressourcen in diesem Jahr übersteigt. Im Hinblick auf die Begrenzung der klimaschädlichen CO2-Emissionen hat der Magdeburger Stadtrat bereits 2019 beschlossen, bis 2035 treibhausgasneutral zu werden.

Wenn dieses Ziel tatsächlich erreicht werden soll, das hat die kürzlich vom LIE aktualisierte CO2-Bilanz für die Stadt Magdeburg ergeben, muss deutlich mehr passieren, denn die Bemühungen der Stadt, so Anne Scheuermann, schlagen sich noch nicht in der Bilanz nieder: Der Endenergieverbrauch in der Stadt, basierend auf dem Verbrauch von 2019, muss bis 2035 um 29% sinken, die CO2-Emissionen sogar um 84%. Zwar sind die Pro-Kopf-Emissionen der Magdeburger:innen auf 5,1 t CO2äq gesunken, das ist jedoch wesentlich dem Zusammenbruch der Industrie in den 90er Jahren und einem wachsenden Anteil der erneuerbaren Energien am Bundesstrommix zuzuschreiben. Kein Erfolg ist im Verkehrssektor zu verzeichnen, hier hat der Endenergieverbrauch seit 1990 um 49% zugenommen. Der Verkehr in Magdeburg verursacht 28,9% aller in der Bilanz berücksichtigten Emissionen. Im Bereich der lokalen Energieproduktion ist der Anteil der erneuerbaren Energien auf 24% gestiegen, was wesentlich (76%) auf die Hausmüllverbrennung im MHKW Rothensee zurückzuführen ist, die hier eingerechnet ist.
Im Hinblick auf den Verkehr bedeutet das Ziel der CO2-Neutralität beispielsweise, dass künftig maximal 25% der Verkehrsleistung in Magdeburg durch den motorisierten Individualverkehr erbracht werden dürfen, gleichgewichtig mit dem Fuß- und Radverkehr sowie dem ÖPNV (je 25%). Die Umstellung auf Elektromobilität muss wesentlich schneller gelingen als derzeit absehbar: ab 2025 darf kein Verbrenner mehr zugelassen werden und 88% der 2035 noch betriebenen PKW müssen E-Autos sein. Der Güterverkehr muss komplett elektrifiziert werden, ohne weiter zuzunehmen.

Wo kann die Stadtverwaltung Einfluss nehmen?

Fest steht, der Umweltverbund in der Stadt muss deutlich attraktiver werden. Ein flächendeckendes Rad- und Fußverkehrskonzept, ein schnellerer ÖPNV mit mehr Kapazitäten, ein flächendeckendes Carsharing-, Rad- und Pedelecverleihsystem und ein gefördertes Mobilitätsmanagement für Betriebe, Schulen und Kitas sind Mittel, mit denen die Wahl der Verkehrsmittel entscheidend beeinflusst werden kann. Denn, auch das ist Teil des Fazits: Es gibt vergleichbare Städte – Jena, Halle (Saale), Leipzig oder Potsdam zum Beispiel – die besser dastehen.

Im Bereich der Magdeburger Haushalte muss es gelingen, den Bedarf an Raumwärme um 2,5 % je Jahr zu reduzieren und die Wärme bis 2035 durch nahezu emissionsfreie Energieträger zu erzeugen. Jährlich müssen 3% der Gebäude energetisch saniert werden und 5% ineffiziente Heizungen in der Stadt ausgetauscht werden. Instrumente sind hier u.a. eine kommunale Wärmeplanung, Sanierungs- und Wärmesatzungen oder energetische Quartierskonzepte mit Sanierungsmanagement. Auch bei der Stromerzeugung heißt das für Magdeburg, das Potential der Erneuerbaren Energien zu 100% auszuschöpfen und beispielsweise alle möglichen Dachflächen für Photovoltaik zu nutzen sowie eine kommunale Beteiligung an Windenergieanlagen zu prüfen. Nicht zuletzt sollte die Stadtverwaltung klimaneutral werden und als gutes Beispiel vorangehen.

Machen, alles ist bekannt!

Im Bereich der Immobilienwirtschaft sei schon einiges passiert, so Julia Brandt von der Wohnungsgenossenschaft „Die Stadtfelder“. Diese stelle einem Teil der Mieter:innen der 4900 Wohnungen bereits Ladeinfrastruktur zur Verfügung. Auch über PV-Anlagen auf den Dächern wird nachgedacht. Schwieriger ist es beispielsweise Wärmepumpenkonzepte im Bestand umzusetzen. Eine große Herausforderung sei es, die Energiethemen in die Belegschaft zu tragen und die Mitarbeiter:innen so zu schulen, dass sie wiederum Mieter:innen beraten und informieren können. Für die Mieter:innen setzt die Wohnungsgenossenschaft auch auf die grundhafte Aufbereitung übertragbarer Lösungen (zum Beispiel Balkonkraftwerke). Die Wohnungsgenossenschaft erstellt derzeit ein Energie- und Klimaschutzkonzept.

Ganze zehn Jahre gab es in Magdeburg harte Diskussionen um den gerade überarbeiteten Verkehrsentwicklungsplan, der mit dem Ziel der Stärkung des Umweltverbundes verabschiedet wurde, so der Beigeordnete Jörg Rehbaum. Für ihn und die Verwaltung ist der Klimaschutz dennoch nur ein Thema, das er neben anderen – wie etwa der verkehrlichen Entwicklung – im Blick haben muss. Rehbaum setzt im Bereich Verkehr auf einen schnelleren, besseren, überregional angebundenen ÖPNV, radfreundliche Verkehrsräume und vor allem einen Bewusstseinswandel in allen Bevölkerungsteilen und der Politik, ohne den die Ziele nicht zu erreichen sind. Offen bleibt, wie der Bewusstseinswandel angesichts der Dringlichkeit des Klimawandels kurzfristig erreicht werden kann.

Für Dr. Tom Assmann (OvGU) verschiebt die Forderung nach einem Bewusstseinswandel das Handeln zu den Bürger:innen: Wir müssen jetzt handeln, bevor es zu spät ist und der kombinierte Verkehr biete bereits alle Lösungen, denn alles was im Privaten funktioniert, funktioniere auch in der Wirtschaft. Für ihn ist es ist eine kommunale Aufgabe, Mobilität so zu planen, dass kein Umdenken mehr notwendig ist. In der Stadt muss das Auto das unbequemste Fahrzeug sein, so Assmann, und verweist auf das gute Beispiel Kopenhagen. Nachhaltige Mobilität als Ideologie zu bezeichnen, sei kein Weg, denn der Klimawandel ist Realität. Solange selbst für Kinder der ÖPNV deutlich teurer ist als ein Parkticket in der Stadt, ist der ÖPNV unattraktiv, ergänzt Dr. Silke Rühmland vom Klimabündnis Magdeburg. Auch für Michal Rost aus dem Publikum fehlt es an unkonventionellen Ideen im Bereich Verkehr und in der Einbindung der Umlandgemeinden, in denen er auch Partner regionaler Wirtschaftskreisläufe sieht.

Erfolgreicher Klimaschutz muss das Ziel Nummer 1 sein, sonst seien alle anderen Probleme irrelevant, so Dr. Silke Rühmland. Die Frage muss sein, wie die Stadt Rahmenbedingungen schaffen kann, die die Umsetzung des Ziels einer emissionsfreien und damit „enkeltauglichen Stadt“ möglich macht? Derzeit wissen die Magdeburger:innen weder wo die Stadt steht, noch wo sie hinwill – wie soll so ein Bewusstseinswandel erreicht werden? Auch die Klimarelevanzprüfung für Stadtratsbeschlüsse läuft nach Ansicht des Klimabündnisses nicht ideal. Für die sachkundige Einwohnerin, Jennifer Lemke, sind Transparenz und zielgruppengerecht aufbereitete, einfach abrufbare Informationen die Grundvoraussetzung, damit Bürger:innen mitgestalten oder auch Unternehmen einbezogen werden können. Nötig seien außerdem eine Kampagne und finanzielle Anreize für den Klimaschutz. Für sie ist klar, dass wir von pilothaften Projekten wegkommen müssen. Alles hängt vom Klima ab und es reicht nicht, Einzelaspekte zu betrachten. Der Klimawandel hat auch soziale Auswirkungen, es sind wieder diejenigen betroffen, die ohnehin schon am schlechtesten dastehen.

Als Instrument der Bürger:innenbeteiligung schlägt das Klimabündnis Bürger:innenräte vor, denn Beteiligung sei nicht damit eingelöst, so Hartwig Haase, Bürger:innen zu einzelnen Veranstaltungen einzuladen. Bürger:innenbeteiligung ist Teil des Maßnahmeplans und auch der zugesagte Klimabeirat verzögere sich. Es sei Aufgabe der Stadt, aufzuzeigen, wie die gesetzten Ziele erreicht werden können. Es gibt viele engagierte Bürger:innen, die sich fragen, wie sie die Verwaltung mitnehmen können, meldet sich Hartmut Koblischke aus dem Publikum zu Wort. Es ist an der Zeit, Bedingungen zu schaffen, die Engagement unterstützen und die gesellschaftliche Aktivität für den Klimaschutz zu bündeln.

Viele Vorhaben seien im Stadtrat abgelehnt worden, aber die Notwendigkeit zu handeln sei mittlerweile im politischen Raum angekommen und die Umsetzungskraft steige, so die Einschätzung von Jörg Rehbaum. Festzuhalten bleibt dennoch: Der Stadtrat hat 2019 dem Ziel einer CO2-neutralen Stadt bis 2035 zugestimmt. Also müsse die Stadt nun bei jeder einzelnen Entscheidung den Klimawandel mitdenken und Beteiligung ermöglichen, so Jennifer Lemke.

Viele Teilnehmenden am Rande der Veranstaltung haben den Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, im Ohr, der am Vortag die UN-Klimakonferenz in Ägypten mit den Worten eröffnete: „Wir kämpfen den Kampf unseres Lebens – und sind dabei zu verlieren“. Für sie und die Initiatoren der Veranstaltung ist klar, dass Diskussionen zwar wichtig sind, es vor allem aber mehr Engagement, Steuerung, Klarheit und auch unliebsame Entscheidungen braucht. Ohne zu wissen, wieviel CO2 durch welche Maßnahme des Masterplans eingespart wird, ohne Transparenz zu der Frage, inwieweit die Masterplanmaßnahmen überhaupt umgesetzt werden, ohne Zwischenziele und Reduktionspfade für die einzelnen Sektoren, ist das wichtige Ziel der CO2-Neutralität nie und nimmer rechtzeitig zu erreichen. Das müssten dann auch die Themen einer nächsten Veranstaltung sein.

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